Das Hungerspinnrad

Was sind Hungerspinnräder?

Es sind Doppelflügelspinnräder, bei denen die beiden Spinnflügeleinheiten aus Spinnflügel und Spule nebeneinander angeordnet sind. Sie sind jeweils über eine Doppelschnur mit dem Antriebsrad verbunden. Der Radkranz des Antriebsrades ist deshalb breiter und hat zwei Rinnen, die durch einen Damm getrennt werden. Dieser Damm hält die  beiden Schnurpaare von einander getrennt (siehe Bild1). An einem solchen Rad kann also eine Person glichzeitig mit beiden Händen jeweils einen Faden spinnen, was viel Übung im Spinnen und gut vorbereitetes Spinnmaterial voraussetzt.

Detailansicht: Mit 2 Spinnflügeln kann zweihändig gesponnen werden.

Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass zwei Personen an dem Rad arbeiten, wobei nur eine über den Tritt das Rad und damit beide Spinnflügeleinheiten antreibt.

Wann und warum wurden solche Hungerspinnräder gebaut, wenn es so viel schwieriger ist, damit zu spinnen?

Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts waren ca. 4 - 10 SpinnerInnen nötig, um einen Weber mit Garn zu versorgen. Dieses Verhältnis änderte sich im Jahr 1733 dramatisch, als der Engländer John Kay den Schnellschützen für den Webstuhl erfindet.

Es besteht die Möglichkeit zu zweit an einem Spinnrad zu arbeiten

Diese Entwicklung ermöglicht es dem Weber, das Schiffen (jetzt Schütze genannt), viel schneller - durch einfaches Ziehen an einer Schnur - durch das Webfach zu schießen. Außerdem kann die Breite des Gewebes jetzt berdoppelt werden, da die Reichweite der Arme des Webers keine Rolle mehr spielt. Die Weber können nun doppelt so viel weben, wie bisher. Damit verdoppelt sich aber der Garnbedarf im gleichen Verhältnis. Um diesen "Garnhunger" zu stillen, müssen nun ca. 8 - 12 SpinnerInnen für einen Weber arbeiten.

In vielen Ländern werden jetzt deshalb immer mehr Doppelflügelspinnräder entwickelt. In Deutschland zum Beispiel soll die Tochter des Pastors Trefurt aus Riede (Grafschaft Hoya) die Fähigkeit besessen haben, mit beiden Händen an zwei nebeneinander stehenden Spinnrädern gleichzeitig zu spinnen. 1750 soll nach ihrer Anleitung ein Doppelbockrad gebaut worden sein, das sog. "Trefurt-Rad".

Von der Heimarbeit zur Manufaktur

Das Garn, was die Weber benötigten, musste vor Beginn der eigentlichen Webarbeit oft erst bei den SpinnerInnen eingesammelt werden. Deshalb mussten die Weber zum Teil sehr weite Wege in entfernt gelegene Dörfer und Gehöfte zurücklegen. Um diese Zeit zu sparen, würden Manufakturen eingerichtet, in denen viele SpinnerInnen gemeinsam arbeiteten. 1850 wurde ein solcher Spinnsaal in Frankreich mit soppelspuligen Spinnrädern ausgestattet.

 

Vom Antriebsrad werden 2 Flügel gleichzeitig angetrieben

Spinnschulen

Schon Kinder erlernten in Spinnschulen das Spinnen mit zwei Spulen. Eine genaue Anleitung, wie das Spinnen auf einem doppelspuligen Rad zu erlernen sei, ist nachzulesen in einem Artikel "Über die Kunst des Spinnens auf dem Rade" von Bürgermeister Möller aus Hamm, 1794. Demnach wird mit der linken Hand angefangen, bis diese den Faden fast ohne Hilfe der Rechten Spinnen kann. Danach wird die rechte Hand geübt. Wer mit beiden Händen geschickt genug ist, einen Faden zu spinnen ohne die Hilfe der jeweils anderen Hand, kann danach auch mit einem Doppelflügelspinnrad arbeiten. In der Spinnschule in Hamm sollen Kinder ab 7 Jahre auf diese Weise das Spinnen auf einem doppelspuligen Rad erlernt haben.

War der Hunger damit gestillt?

Trotz aller Bestrebungen und Anstrengungen konnte der Garnhunger der Weber jedoch nicht befriedigt werden. Beim beidhändigen Spinnen ist eine hohe Konzentration erforderlich, die nicht über einen längeren Zeirtraum möglich ist. Die SpinnerInnen konnten mit dem Doppelflügelspinnrad in Wirklichkeit nicht doppelt so schnell spinnnen, sondern ihre Produktivität um zwei Drittel steigern. Außerdem war die Garbqualität, die so erzeugt wurde, schlechter.

Aus diesem Grund wurde nach Wegen gesucht, um den Webern die benötigte Garnmenge zu verschaffen.

Bereits um 1764 wurde in England die erste brauchbare Spinnmaschine (Spinning Jenny) entwickelt.

 

Zurück zum Namen:

Doppelflügelspinnrad, zweiflügeliges oder zweispuliges Spinnrad, Doppelbock sind Namen, dies sich auf die Bauweise beziehen.

Hungerspinnrad oder auch Hungerbock heißt es in Gegenden wie der Eifel, dem Hunsrück, dem Westerwald oder der Lüneburger Heide. Hier musste aus finanzieller Not gesponnen werden. Dabei sollte das beidhändige Spinnen ermöglichen, in der gleichen Zeit die doppelte Menge Garn zu erhalten.

Es gibt noch zwei weitere Namen. Spinnräder gehörten zur Brautausstattung - zuerst sicher nur als Räder zum Arbeiten. Später dann, zu Zeiten, wo es nicht mehr darauf ankam, besonders viel Garn zu spinnen, mehr und mehr als Räder zur Zierde in der guten Stube. Solche Räder waren oft besonder schön gedrechselt oder wiesen Verzierungen aus Knochen, Perlmut oder sogar Elfenbein auf. Die zweiflügeligen Räder, die zur Aussteuer gehörten, heißen deshalb auch Hochzeits- oder Liebesräder.

Hochzeitsrad

*Der ausführlicher Artikel zum Thema Hungerspinnräder in unserem Museum erschien im Heft "Lavendelschaf" 34/2011 unter dem Titel: "(Durch-) Blick auf einen Eifelschatz".

Quellen / Weiterführende Literatur:
Sigrid Vogt: Geschichte und Bedeutung des Spinnrads in Europa; Shaker Media, Aachen 2008
Almut Bohnsack: Spinnen und Weben. Entwicklung von Technik und Arbeit im Textilgewerbe; Rowohlt, Hamburg 1981
Helga Heubach: Ich spinne meine Aussteuer; Frankfurt am Main 1998
Gaby Fischer: Alter Flachs – neu durchgehechelt; Schriftenreihe des Rhein-Hunsrückkreises Band 5, 1988
Ulrike Claßen-Büttner: Spinnst Du? Na klar! Geschichte, Technik und Bedeutung des Spinnens von der Handspindel über das Spinnrad bis zur Industriellen Revolution Isenbrunn 2009
Johann Samuel Halle: Die Leinenmanufactur, oder die vollständige Oeconomie des Flachsbaues nach allen seinen Zweigen; Berlin 1788