Zwei Namen, eine Technik
Fingerweben oder Diagonalflechten sind zwei Namen für eine alte Technik, die fast in Vergessenheit geraten ist. Diese Art des Webens ist komplett unabhängig von jedem Gerät und wird nur mit den Fingern ausgeführt, wie der erste der beiden Namen andeutet. Es ist ein Weben mit einer aktiven Kette ohne Einsatz eines zusätzlichen Schussfadens.
Die Technik
Dafür wird eine beliebige Anzahl von Fäden einer oder mehrerer Farben an einem Ende fixiert. Die Fäden können aber auch mittig mit einer Schlaufe an einem Stab befestigt und dann entweder doppelt genommen werden. Auch kann man erst die eine Hälfte und danach vom Stab aus die zweite Hälfte in die andere Richtung weben.Beim Weben werden alle Kettfäden nacheinander zum Schussfaden, indem sie mit den Fingern über und unter die jeweiligen anderen Kettfäden eingewebt und danach selber wieder zum Kettfaden werden. Die Finger bilden dabei das Fach, durch das der betreffende Kettfaden als Schuss eingezogen wird. Es wird kein Schiffchen mit einem Extraschussfaden verwendet.
Dabei kann von einem Rand zum anderen gewebt werden oder von beiden Rändern zur Mitte hin oder von der Mitte zu den Rändern.
Typisch für diese Technik ist die diagonale Arbeitsrichtung. Darauf bezieht sich der zweite Namen der Technik. Die „Schüsse“ verlaufen von den Rändern des Bandes oder Stoffes in Winkeln von weniger als 90°. Die Verkreuzungen der Fäden sind echte Bindungen, analog zu denen des Webens am Webstuhl.
Möglichkeiten der Musterbildung
Möglichkeiten der Musterbildung bestehen z.B.
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im Einsatz von verschiedenen Farben
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durch Änderung der Einwebrichtung (Bild 2)
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durch Neueinsetzen oder Auslassen von Fäden oder Fadengruppen
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in der Art der Bindung (Leinwand, Köper)
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durch Verhängen von zwei benachbarten Fäden unterschiedlicher Farben
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durch Einlegen von Fadengruppen als „Schuss“.
Es gibt symmetrische Muster, bei denen die Farben einer geraden Anzahl von Fäden spiegelbildlich zur Mitte angeordnet sind. Bei asymmetrischen Mustern sind die Farben beliebig verteilt, und es kann auch eine ungerade Anzahl von Fäden verwebt werden.
Wenn man die gewünschte Länge des gewebten Bandes erreicht hat, oder wenn die restliche Länge der Kettfäden ein weiteres Weben nicht mehr zuläßt, muß das Fertiggewebte gesichert werden. Dabei gibt es mehrere Möglichkeiten. Man kann einfach die Kettfadenreste zusammenknoten und dann als Fransen übrig lassen. Desweiteren kann man die Kettfäden zu Zöpfen flechten oder miteinander verzwirnen. In Estland gibt es noch eine weitere Variante. Die restlichen Kettfäden werden in Gruppen mit farbigen Fäden fest umwickelt und anschließend zu einer Art Quaste geknotet.
Zur Geschichte des Fingerwebens
Das Fingerweben oder Diagonalflechten ist eine sehr alte Technik. Sie wurde wahrscheinlich schon ausgeübt, bevor andere Webgeräte bekannt waren. Es gibt Funde von den Sven Hedin-Expeditionen aus Zentralasien (Lou-Lan), die in die Zeit vor Christus datiert wurden. Aus Dänemark sind fingergewebte Textilien aus der Bronzezeit bekannt – der sogenannte Mammen-Fund. Aus Schweden und Norwegen gibt es Belege aus der Wikingerzeit (Birka und Oseberg).
Die Technik des Fingerwebens ist nicht nur sehr alt, sondern auch weit verbreitet. In Europa kann man sie z.B. in Norwegen, Schweden, Dänemark, auf den Färöer Inseln, in Lappland, in den Baltischen Ländern, Rumänien und der Türkei finden. Beschrieben sind des weiteren Belege aus Arabien und vielen Ländern des Orients, aus Japan und China. Auch jenseits des Atlantischen Ozeans ist diese Technik verbreitet. In Nordamerika sind z.B. interessante Muster von den Creek-Indianern in Georgia und den Cherokee-Indianern in North Carolina überliefert. In Südamerika, in Peru z.B., kann man wieder andere Mustermöglichkeiten entdecken.
Die Gewebe sind sehr elastisch und werden verwendet z.B. als Strumpf- und Schürzenbänder (Estland) oder als Tragegriffe für Taschen, außerdem als Gürtel, Schärpen, Halsbänder oder Randverzierungen für Bekleidung.